Detailansicht einer Person von hinten, im Bild zu sehen ist ein Shirt mit dem Logo der muTiger-Stiftung

15. Juni 2023

„Es reicht! Lass mich in Ruhe!“ Wie ich mit „muTiger“ mutiger wurde und verstand, wie wichtig Zivilcourage ist

Zivilcourage ist wichtig! Ich schätze, da sind wir uns alle einig. Aber wie gelingt es mir, in kritischen Situationen mutig einzuschreiten, ohne dass ich mich selbst gefährde? Was brauche ich, um couragiert zu sein, Verantwortung für mich und andere zu übernehmen? Und hat Zivilcourage eventuell auch Grenzen? Auf der Suche nach Antworten auf meine Fragen habe ich an einem muTiger-Training teilgenommen – und dabei eine Menge über Zivilcourage und mich selbst gelernt.

Mut und Hilfsbereitschaft zählen!

Ich erinnere mich noch genau, als ich das erste Mal in eine Situation gekommen bin, die ohne Mut und Hilfsbereitschaft wahrscheinlich nicht gut ausgegangen wäre. Direkt neben mir im Zug gerieten zwei Personen aneinander. Eine junge Frau, die über Kopfhörer so laut Musik hörte, dass das ganze Abteil mithören konnte. Und ein Fahrgast, ganz offensichtlich betrunken, der sich dadurch maßlos gestört fühlte. Es blieb leider nicht bei einem Wortgefecht zwischen den beiden – irgendwann ging der Betrunkene auf die junge Frau los, um ihr die Kopfhörer wegzureißen.

Ich ging dazwischen, gemeinsam mit zwei jungen, kräftigen Männern, die die beiden Streithähne auseinanderzogen. Der Triebfahrzeugführer wurde informierte, stoppte den Zug, die Bundespolizei rückte an und die beiden Personen mussten den Zug verlassen.
 

Wie helfe ich richtig?

Übereinander gestapelte Buchstabenwürfel mit dem Schriftzug "Zivilcourage", daneben sind bunte Spielfiguren zu sehen

Wahrscheinlich waren die meisten von uns schon einmal in einer Situation, die unangenehm oder sogar bedrohlich war – ob in der Bahn, im Fußballstadion, auf der Kirmes oder sogar im Supermarkt. Eigentlich überall, wo viele Menschen zusammenkommen. In den seltensten Fällen mangelt es uns an Hilfsbereitschaft. Oft überwiegt schlicht die Angst, selbst Opfer zu werden, manchmal auch die Unsicherheit, wie man sich richtig verhält.

Wie man Verantwortung übernimmt und Mut beweist, all das lernt man in den Trainings der muTiger-Stiftung. Gemeinsam mit Kolleg*innen nehme ich an einer der vierstündigen Schulungen teil. Dabei stelle ich schnell fest, dass alle sich mit ähnlichen Fragen beschäftigen: Wie verhalte ich mich in einer Gefahrensituation richtig? Wie treffe ich den richtigen Ton, um zu deeskalieren? Kann ich eine Möglichkeit finden, zu helfen, ohne mich selbst zu überfordern? In welchen Situationen macht es Sinn einzugreifen, in welchen nicht?

Helfen kann jeder

Helfen kann jeder, auch wenn wir alle unterschiedliche „Helferprofile“ haben. Diese Aussage unserer beiden Trainer Volker und Bernd bleibt mir besonders im Gedächtnis. Volker war 25 Jahre bei der BOGESTRA, arbeitet heute als Verhaltenstrainer und Mediator und kam bereits 2012 zu muTiger. Bernd, Lehrer und passionierter Fußballtrainer, bildet Lehramtsanwärter*innen aus und hat am Lehramtsseminar muTiger kennen und schätzen gelernt. Seit fünf Jahren engagiert er sich ehrenamtlich in der Stiftung.

Um das Thema für alle Trainingsteilnehmer*innen greifbar zu machen, schauen wir uns ein Video an, in dem zwei aggressive Personen in einer vollbesetzten Straßenbahn einen Fahrgast bedrängen. Volker und Bernd erklären uns, dass alle kritischen Situationen immer zwei Perspektiven haben: die des „Opfers“ und die der „Beteiligten“. Gemeinsam überlegen wir also, was Opfer tun können, um sich selbst zu schützen. Und wie eine sinnvolle Hilfe Mitreisender aussehen könnte.
 

Was kann das „Opfer“ tun?

Am besten gar nicht erst zum Opfer werden.

Hierfür können wir Einiges selbst tun. Ecken meiden. Die Nähe zu anderen Fahrgästen suchen. Aufmerksam sein für das, was um uns herum geschieht. Hierzu einfach mal Smartphone und Buch in der Tasche lassen und die Wahrnehmung schärfen für das, was im direkten Umfeld geschieht. An dieser Stelle fühle ich mich ertappt, denn morgens auf dem Weg zur Arbeit greife ich als erstes nach meinem Handy, sobald ich im Zug sitze. Immer wieder aufschauen und die Umgebung scannen. Aufstehen und gehen, wenn Menschen hereinkommen, die auf Stress aus sind. Selbstbewusst und nicht ängstlich auftreten – was im Fall der Fälle allerdings leichter gesagt als getan ist.

Und wenn es zu einer Auseinandersetzung kommt, dann gilt es, laut zu sein! „Ihr müsst selbstbewusst auftreten, auf euch aufmerksam machen und durch eure Stimme Öffentlichkeit herstellen“, erklärt Volker. „Was ihr im Fall der Fälle sagt, das ist euch überlassen. Macht euch Gedanken über euer ganz persönliches Stop-Wort oder einen kurzen Satz.“

Laut sein ist wichtig und richtig!

Sofort schießt mir ein Gedanke durch den Kopf! Innerlich schreie ich „Es reicht! Lass mich in Ruhe!“ Auch meine Kolleg*innen kommen ins Grübeln, jede*r geht gedanklich durch, was er einer Angreifer*in entgegenschleudern würde. Aber traut man sich das dann auch? Ist man laut genug? Als hätte er unsere Gedanken gelesen, sagt Bernd zu uns: „Habt ihr euch überlegt, was ihr sagen würdet? Dann üben wir das jetzt mal. Und zwar alle gemeinsam, richtig laut. Ich zähle bis 3 und dann legt ihr los.“

1… 2… 3… Und ein ohrenbetäubendes Gebrüll von allen Teilnehmer*innen donnert durch die VRR-Flure. Jede*r schreit heraus, was mögliche Störenfriede stoppen soll. Bei der Lautstärke sollte wirklich jede*r verstehen, dass er eine Grenze überschritten hat und uns in Ruhe lassen soll.

Was können Beteiligte tun?

Am besten direkt tätig werden.

Denn oftmals kommt es – wie unsere Trainer uns erklären – zu einer sogenannten Verantwortungsdiffusion: Keiner schreitet ein, weil alle hoffen – ob bewusst oder unbewusst –, dass eine andere Person einschreiten wird. Dies gilt es zu durchbrechen. „Einer muss den Anfang machen, dann ziehen in der Regel andere nach“, erklärt uns Volker. Bernd ergänzt: „Macht euch vorher Gedanken darüber, was ihr tun würdet, wenn ihr in eine schwierige Situation kommt. Am besten in einer ruhigen, stillen Situation. Das ist wichtig, damit ihr vorbereitet seid. Klärt mit euch selbst: Wo sind meine Grenzen?“

Die eigene Sicherheit steht ganz oben!

Generell gilt in kritischen Situationen für alle Helfer*innen: Die eigene Sicherheit steht ganz oben! Hinter diesen Satz machen Bernd und Volker ein dickes Ausrufezeichen! Gemeinsam mit den beiden erarbeiten wir, was wir in Notlagen für das Opfer tun können, ohne uns selbst in Gefahr zu bringen. 

Wenn ich als „muTiger“ eingreife, dann immer gemeinsam mit anderen. Ich spreche gezielt Helfer*innen an, um mit ihnen gemeinsam das Opfer aus der kritischen Situation zu holen. Bernd erklärt uns: „In Konfliktsituationen sprechen wir niemals die Täter*innen an, sondern immer das Opfer. Wer bedroht wird, ist dankbar für jede Hilfe und wird in der Regel direkt auf die Ansprache reagieren.“ Ganz wichtig ist dabei, auch keinen persönlichen Kontakt zum Täter oder der Täterin zu suchen, sondern im eigenen Interesse räumliche Distanz und damit Sicherheit zu wahren. 
 

Und was ist, wenn ich mich selbst durch mein aktives Handeln in Gefahr bringen würde?

Dann habe ich trotzdem die Möglichkeit zu helfen, wenn Menschen bedroht, bedrängt oder sogar verletzt werden. Ich kann den Polizeiruf 110 wählen, in Bus und Bahn die Fahrer*innen informieren und auch den Notknopf drücken. Und ich kann mir die Situation genau anschauen und mir wichtige Einzelheiten einprägen, um der Polizei später als Zeugin weiterzuhelfen.

Wichtig in Akutsituationen: Ruhe bewahren!

Eine junge Frau steht vor einer Tafel, mit Kreide sind muskelbepackte Arme hinter sie gezeichnet
Stärkende, positive Gedanken können helfen, in kritischen Situationen die Ruhe zu bewahren.

Auch diesen Punkt thematisieren Volker und Bernd in unserem Training. Denn er ist für Opfer genauso wichtig wie für Helfer*innen. „Bedrohliche Situationen sind für alle Beteiligten mit Stress verbunden. Wenn wir uns selbst aus einer Notlage befreien oder anderen helfen wollen, dann müssen wir diesen Stress bewältigen und Ruhe bewahren“, betont Volker. Dass das nicht leicht ist, wissen die beiden Trainer. Aber sie geben uns Tipps, was wir tun können: „Versucht eure Atmung zu beruhigen, indem ihr langsam ein- und ausatmet. Und nutzt positive Selbstinstruktionen, um euch selbst den Rücken zu stärken.“ Positive Selbstinstruktionen, das sind Gedanken wie beispielsweise „ich bin ruhig“, „ich meistere diese Situation“ oder „ich bin stark“. Welche Gedanken auch immer wir uns machen, wichtig ist: sie müssen positiv und stärkend sein!

Nicht nur Theorie, sondern auch Praxis

Die vier Stunden mit Volker und Bernd vergehen wie im Flug. Theorie wechselt sich ab mit der Arbeit in kleinen Gruppen und angeregte Diskussionen in großer Runde. Die beiden Trainer vermitteln uns grundlegendes Wissen zu Interventionstechniken und ordnen Reaktionen von Opfern und Helfer*innen auch rechtlich ein: Welche sind zulässig, welche nicht? Und wie sichere ich mich für mögliche rechtliche Auseinandersetzungen bestmöglich ab? 

Mir persönlich hilft sehr, dass wir uns nicht nur theoretisch mit dem Thema Zivilcourage auseinandersetzen, sondern immer wieder praktische Übungen machen, in denen wir das Gelernte umsetzen können. Wenn Volker oder Bernd in einem Rollenspiel auf Stress aus sind und uns aggressiv begegnen, dann merke ich sehr deutlich, dass zu aktivem Handeln auch Mut gehört – und wo meine Grenzen sind.

Ein muTiger-Trainer und ein Teilnehmer stehen sich im Gespräch gegenüber
Praktische Übungen helfen den Teilnehmer*innen im muTiger-Training, das Gelernte umzusetzen.

Ich bin muTiger – werden Sie es auch?!

Als das Training endet, überreichen uns Volker und Bernd unsere ganz persönlichen muTiger-Karten – mit den wichtigsten Hinweisen zum richtigen Verhalten in kritischen Situationen. Die vier Stunden waren prall gefüllt mit wertvollem Wissen, interessanten Gesprächen und hilfreichen praktischen Übungen. Mein persönliches Fazit: Ich bin muTiger als vorher und weiß nun, wie ich „Zivilcourage“ in Gefahrensituationen selbst mit Leben füllen kann. Eine Erfahrung, die ich Ihnen allen nur wärmstens ans Herz legen kann. 

muTiger-Trainings gibt es für Jugendliche und Erwachsene – auch für geschlossene Gruppen an Schulen, in Unternehmen sowie in Vereinen und Institutionen. Unter www.mutiger.de erfahren Sie alles Wissenswerte zur muTiger-Stiftung und können sich bei Interesse an einer Trainingsteilnahme direkt an die Stiftung wenden: Kontakt - (mutiger.de)

Wibke Hinz

Von Wibke Hinz
PR- und Online-Redakteurin


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